Ist Social Media am Ende seines Lebenszyklus?

Datenjournalist John Burn-Murdoch stellt in der Financial Times die Frage, ob wir „Peak Social Media“ erreicht haben. Seine Daten zeigen: Die tägliche Social Media Nutzung sinkt seit 2022 konstant, bei jungen Menschen zwischen 16 und 24 am stärksten.

Dazu findet er heraus, dass Social Media nicht mehr sozial genutzt würde. Die Motivation, dort neue "Freunde zu finden“, sei seit 2014 um 30 %, „mit Freunden in Kontakt zu bleiben“ um 40 % gesunken.
An dieser Stelle wäre die Frage angebracht, ob es wirklich die Motivation der Menschen ist, die hier sinkt, oder ob diese Zahlen zeigen, dass die Plattformen sich so sehr verändert haben, dass sie diese Bedürfnisse schlicht nicht mehr befriedigen können.
Ich denke, dass Social Media durchaus noch gebraucht wird, wenn man sich mal anschaut, was Social Media eigentlich mal war und was Plattformen, die heute von sich behaupten, "Social Media" zu sein, heute nicht mehr sind.
Was war
Social Media hat begonnen als Treffpunkt für relativ homogene soziale Gruppen: Familien, Hobbies, Aktivismus, Kreativität... Man fand und vernetzte sich mit Menschen, mit denen man etwas gemeinsam hatte. Deswegen nannte man Webseiten, die solche Treffpunkte bereitstellten, früher auch erst mal "Communities", lange bevor sich irgendwann mal der Begriff "Social Media" dafür etabliert hat.
Damals wurde etablierte Funktionen aus Foren, Chatsystemen und Blogs miteinander vermischt, damit soziale Gruppen (oder Neudeutsch "Bubbles") sich zusammenfinden und miteinander kommunizieren konnten. Da man aber auch das Bedürfnis nach öffentlicher Sichtbarkeit hatte - zum Beispiel als Musiker*in und Autor*in, aber auch einfach weil Unterhaltung ein soziales Bedürfnis ist - erlaubten die Plattformen neben geschlossenen Gruppen auch "öffentliche" Beiträge, die wir dann wiederum in unseren sozialen Gruppen teilen konnten.
Eine der wichtigen Schritte, um aus einem losen Konglomerat von Forenfunktionen, Gruppen-Chats, Blogs und einem Verzeichnis von Freundes-Profilen eine "Social Media"-Plattform zu machen, war die Erfindung der Timeline: Damit ein*e Nutzer*in nicht ständig in allen Gruppen, Blogs und auf allen Profilen nachsehen musste, ob es dort was neues gibt, wurde einfach alles, was irgendwo neu gepostet wurde, aggregiert und chronologisch auf ein unendliches Fließband gelegt.
Damit waren wir immer auf dem neuesten Stand darüber, was Freunde und Verwandte gerade bewegte, was in unseren Hobbies und Interessensgebieten passierte und wer wie auf unsere eigenen Beiträge reagierte.
Und das ist heute immer noch das, was viele unter "Social Media" verstehen.
Was ist
Allerdings gibt es das schon seit vielen Jahren nicht mehr. Es sieht nur noch so aus. Die Timelines der heutigen Plattformen sind inzwischen viel näher an klassischen Medien als an dem, was sie ursprünglich mal abbildeten: Die Kriterien dafür, was wir sehen sind nicht mehr unsere, sondern werden von Algorithmen bestimmt.
Diese Algorithmen zeigen uns nicht mehr die privaten Gruppen oder Aktivitäten unserer Freundeskreise, sondern das, was die Plattformen als relevant erachten. Und das sind vor allem klassische Medien, reichweitenstarke Influencer*innen, Produkte und Marken und selbstverständlich mit Geld bezahlte Inhalte. Die ebenfalls wiederum nach Kriterien ausgewählt werden, die nichts mit unseren Interessen zu tun haben sondern zum Beispiel damit, wie gut sie darin sind, uns länger auf der Plattform zu halten.
Um überhaupt noch eine irgendwie für uns sinnvolle Medienerfahrung zu bekommen, müssen wir heute daher sogar ständig aktiv gegen das ankämpfen was uns Algorithmen kuratieren - es ist erstaunlich, wie selbstverständlich wir inzwischen davon reden, den "Algorithmus zu trainieren", denn das war bis vor etwas über 10 Jahren noch völlig unnötig.
Im Prinzip ist die heutige Nutzungsweise von Social Media Plattformen somit inzwischen dieselbe, die das lineare Fernsehen bietet und wir zappen wie früher stundenlang durch die Sender, statt den Fernseher auszuschalten. Social Media Plattformen bedienen also den Bedarf, den wir bereits vor 30 Jahren hatten, als wir nachts um zwei nicht ins Bett gegangen sind, sondern uns durch zig Sender mit Dauerwerbesendungen gezappt haben.
Und so wie das lineare Fernsehen seine soziale Relevanz verloren hat, verlieren - sichtbar seit 2022 - Social Media Plattformen ihre soziale Relevanz.
Was wird
Also ist Social Media am Ende? Nein, natürlich nicht. Dass 40% Social Media Plattformen nicht mehr nutzen, um mit Freunden in Kontakt zu bleiben heißt nicht, dass der Bedarf sinkt, mit Freunden in Kontakt zu bleiben, sondern dass die Plattformen diesen Bedarf tatsächlich nicht mehr erfüllen. Aus oben genannten Gründen.
Ändern würde sich diese Prognose nur, wenn die Plattformen ihre Prioritäten ändern würden, aber ich glaube nicht, dass das passiert - im Gegenteil: Der massive Einsatz von KI als zukünftiger Contentlieferant zeigt ja, dass Plattformen den Weg des Broadcast-Mediums weitertreiben wollen. Die KI soll dabei möglichst viel Platz einnehmen, der derzeit von Content-Kreatoren besetzt ist, weil die Plattformbetreiber zwar Content brauchen, aber Kreatoren ja Geld dafür zahlen müssen. Deswegen erhöht Spotify ja auch die Menge der KI-Musik in ihren Streams, weil dann weniger Geld an echte Musiker*innen geht... naja, jedenfalls zeigen mir diese Bestrebungen, dass man nicht an eine Rückkehr zu einer wirklich sozialen Plattform interessiert ist.
Wo wird der Bedarf nach sozialer Interaktion und Community denn dann versorgt? Naja, da kann man ja zum Beispiel mal bei sich selbst schauen, wo die eigene Kommunikation sich hin verlagert hat. Das sind Dienste und Plattformen, die wieder viel mehr Ähnlichkeit damit haben, womit Social Media mal angefangen hat, aber modernere Technik dafür verwenden: mobile Chat-Dienste wie Signal und WhatsApp, Community-Hubs wie Discord, mit leicht zugänglicher Live-Technik wie sie auch Zoom und Twitch bietet und vielleicht benutzt ihr sogar schon Smart Home Geräte wie Alexas Drop-In Feature. Etwas, was ja auch nur die Freisprechfunktion aus Autos in die Wohnung verlagert.
Wie so oft dachte ich, dass das schneller geht weil ich gerne überschätze, wie schnell sich eine riesige Masse Menschen bewegt bzw. der Tatsache nicht gewahr genug bin, dass solche Bewegungen viel weniger linear und viel exponentieller sind: Daher scheint Jahre lang gar nichts zu passieren und plötzlich wirkt Facebook innerhalb von wenigen Monaten wie ausgestorben.
Worauf ich hinaus will ist somit: Die klassischen Social Media Plattformen sind nicht mehr social, sondern die digitale Version der alten Medienwelt und sie folgt deren Regeln, im Guten wie im Schlechten. Und wenn wir uns ansehen, wie das war, als lineares Fernsehen seinen Peak vor vielleicht 25 Jahren hatte, ist die Ähnlichkeit durchaus frappierend, oder?