Wie man im Internet liest ohne wahnsinnig zu werden

Wie man im Internet liest ohne wahnsinnig zu werden

Don Dahlmann schrieb jüngst, dass er keine Nachrichten mehr lesen will, vor allem nicht im Internet:

Denn die Online Newsportale schreiben nicht mehr, sie schreien nur noch. Jede noch so kleine Nachricht wird zu einem "ES KÖNNTE SEIN DASS WIR ALLE STERBEN" aufgeblasen, jede noch so nichtige Aussage eines Politikers wird mit "KANN MAN SO JEMANDEN WÄHLEN! SKANDAL!" quittiert. Dazwischen "Schau mal, lustige Promi-Nachricht."
Es ist ein Wettstreit um die Aufmerksamkeit des Lesers entstanden und denn offenbar wird nur geklickt, was möglichst nach viel Aufregung klingt. Also schreibt man alles möglichst so, dass es nach maximaler Aufregung klingt. Ein Fest der Superlative, der permanenten Emotion und Schnappatmung.

Dazu kommt, dass es anscheinend immer mehr Web-Seiten, Bilder und Meldungen gibt, die platteste, offensichtlichste Lügen verbreiten, die aber dennoch von so vielen Menschen geglaubt und verbreitet werden, dass man annehmen könnte, die Hälfte der Menschheit hat ihren Verstand gegen ein Stück Weißbrot eingetauscht.

Und nicht zuletzt scheinen die großen soziale Medien inzwischen von eben diesen Weißbrothirnen überlaufen zu sein, denn man kann keinen Kommentarthread mehr lesen, der nicht von "Hatespeech" überquillt und in denen konstruktive oder differenzierende Stimmen kaum mehr wahrnehmbar sind.

Wer sich erinnert, wie sich Twitter oder Facebook noch vor wenigen Jahren - sagen wir fünf oder sechs - angefühlt hat(1) und damit vergleicht, wie es sich heute anfühlt, fragt sich: Was ist da schiefgelaufen?

Twitter war mal eine bunte Welt aus launigen Aphorismen, aktuellen Informationen und erfrischendem Bushaltestellen-Smalltalk. Es gab schon mal Kabbeleien und auch mal Streit, aber das blieb doch alles in einem eher individuellen Rahmen und ging auch immer so schnell vorbei wie es kam.

Facebook war so ein bisschen die Family & Friends Ablage, auf der man mit denen in lockerem Kontakt bleiben konnte, mit denen man nicht täglich zu tun hatte oder haben wollte. Man fand auch mal überraschend alte Bekannte wieder und es war immer nett, ein bisschen mehr Einblick in den Alltag der Menschen zu haben, die man sonst eher oberflächlich kannte.

Inzwischen sind beide Plattformen gefühlt geprägt von hyperventilierten Weltnachrichten und hitzigen Debatten darüber. Geifernde Mobs fallen über einzelne Nutzer her, jede gute Kinderstube ist abgeschafft. Ohne einen Gedanken daran, dass die anderen auch normale Menschen sind wird hemmungslos versucht, sie fertig zu machen und so stark zu verletzen wie das mit Worten möglich ist. Gewaltfantasien, Mord- und Vergewaltigungsdrohungen sind normal. Diejenigen, die gerne behaupteten, dass der strenge Geruch nur von den anonymen Kellerkindern ausginge, sind verstummt, denn die, die ihre Kinderstube vergessen haben, kommentieren ihre Tiraden mit Klarnamen.

Also. Was ist da schiefgelaufen?

Erstmal wie immer: Runterkommen und ruhig atmen. Die Normalität ist nicht kaputt, die Wahrnehmung ist verschoben.

Die Menschen sind weder plötzlich alle wahnsinnig geworden noch ist die Situation wirklich so neu und unabwendbar, wie sie sich darstellt.

Ich hatte vor einer Weile einen Test-Tweet abgeschickt, mit einer Position, die genau in die Mitte zweier sich zankender Parteien landet - man könne ja sowohl die einen, wie auch die anderen verstehen. Ein bisschen Provokant formuliert, um auch wirklich die jeweiligen Extrempositionen zu triggern (da reicht ein bisschen erfahrungsgemäß aus):

Das nüchtern statistische Ergebnis ist erfreulich: Wenn man Retweets und Likes als Zustimmung der Position ansieht, zählen wir das um 1350 mal. Dagegen steht jeweils eine Hand voll Ablehnung von beiden Seiten. Sieht also doch alles ganz vernünftig aus.

Gefühlt war das aber anders, denn die Likes und Retweets tickern stumm im Hintergrund hoch, die Replies aber waren Reaktionen, auf die mich Twitter besonders hinwies und die ich mir auch anschauen musste, um zu entscheiden, ob ich darauf antworte. Das heißt, die Zeit und die Überlegungen, die ich mit den im Gesamtbild eigentlich unwichtig wenigen Extrempositionen verbrachte, war unverhältnismäßig hoch.

Dasselbe auf Facebook: Wenn ich dort das Gefühl habe, irgendwie spinnen gerade alle - zum Beispiel, wenn ich einen launigen Scherz teile und jemand nimmt diesen partout Ernst, zieht den in neue Kontexte und verwickelt mich in eine philosophische Niveau-Diskussion die sich den ganzen Tag hinzieht oder jemand nimmt jeden Post, in dem es auch nur entfernt um Feminismus geht zum Anlass, ein Streitgespräch über Männerrechte anzuzetteln, dann ist das durchaus nervig. Auch hier genügt der nüchterne Blick auf Likes gegen Kritik: Der erwähnte Scherz hat 12 Menschen gefallen und einem halt nicht. Facebook hat mir (und ihm natürlich auch) aber jedes mal Bescheid gesagt und den Post wieder vor die Nase gesetzt, wenn es einen neuen Kommentar gab.

Das heißt: Die Plattformen haben ihre User Experience so konstruiert, dass sie vor allem Interaktionen hervorhebt und möglichst viele neue erzeugt. Das ist zunächst auch ganz logisch und nachvollziehbar, aber so wie sie es tun, führt das inzwischen dazu, dass der Dissens amplifiziert wird und der Konsens als reiner Statistikwert fast unsichtbar bleibt - er führt natürlich zu Reichweite, daher sind die "Likes" und Herzchen und Sternchen trotzdem wichtig. Aber Konsens ist am Ende eine zusammengefasst Zahl, jeder Dissens wird dagegen einzeln angezeigt und jeder davon hat einen individuellen Namen.

Die "wir zeigen Dir das, was relevant ist" Mechaniken der Social Media Plattformen, wozu auch die von Facebook eingeführte Vorauswahl der angezeigten Inhalte gehört, die die frühere diskriminierungsfreie, weil schlicht nach absteigender Aktualität sortierte Reihenfolge abgelöst hat, haben unsere Timelines mit steigender Nutzerzahl in gefühlte Schlachtfelder verwandelt. Was also seitens der Plattformen passieren muss ist, dass sich die Usability und die Algorithmen, mit denen Aufmerksamkeit geschaffen oder verhindert wird, an neue Gegebenheiten anpassen muss. Es kann nicht sein, dass wer am lautesten und am wüstesten schreit, mit Reichweite belohnt wird. Es ist ja auch im Interesse der Plattformen, dass ihre Nutzer sich dort wohlfühlen.

Was kann ich als Nutzer anders machen?

Wenn Sie Community ManagerIn sind: Kuratieren Sie ihre Seite und moderieren Sie Kommentare. In jedem Geschäft, in dem viele Menschen ein und aus gehen, wird ständig geputzt wenn irgendwo Abfall herumliegt und darauf geachtet, dass Menschen, die sich nicht benehmen können, schnellstens rausfliegen. Warum sich im Internet die Vorstellung hält, dass man Schreihälse ohne Manieren auszuhalten habe, ist mir ein Rätsel.

Inzwischen gibt es mit Schmalbart oder #ichbinhier Initiativen, die freiwillig unter anderem die Arbeit der untätigen Plattformen und Community Manager machen und mit Differenzierung, nachfragend oder mahnend in die Diskussionen eingreifen, in denen Hass und Beschimpfungen besonders schlimm sind.

Als normaler Mensch auf Facebook oder Twitter können Sie nur indirekt einwirken, solange die Plattformen sich für die Menge an Menschen und Meinungen, die sie inzwischen beherbergen keine besseren Mechaniken ausgedacht haben.

Die beste individuelle Möglichkeit ist filtern. Wir gehen im echten Leben Menschen, mit denen wir nichts zu tun haben wollen, gemeinhin aus dem Weg. Bewusst und - bedingt durch Sozialisation, Kompetenzen, Wohnort, besuchte Schulen Studien- oder Ausbildungsplätze - zu einem erheblichen Teil unbewusst. Wir geben uns nicht freiwillig mit Menschen ab, die wir verachten und wir suchen aktiv die Nähe zu denen, die wir bewundern oder mit denen wir uns verbunden fühlen. Im echten Leben starten wir offene Konfrontationen bewusst (z.B. durch die Teilnahme an einer Demonstration) und entsprechend selten.

Das Praktizieren dieser sozialen Konventionen schützt uns vor Stress und hilft uns, konstruktiv zu sein. Es immunisiert uns, macht "unsere" Welt überschaubar und vermittelt uns ein Gefühl der Sicherheit.

Daher muss man auch in der digitalen Welt lernen, sich zu distanzieren, Filter zu setzen, Abstände einzubauen und sich abzugrenzen. Wenn ich allen zuhören muss, höre ich vor lauter Lärm gar nichts mehr. Wenn ich mich verständlich machen will, muss ich Wege finden, nicht erst mal schreien zu müssen, um das ganze Rauschen zu übertönen (weshalb ich nicht in unmoderierte Medienforen kommentiere).

Filtern bei Facebook geht relativ schnell: Posts von Kontakten kann man abstellen, ohne sie zu entfreunden (auf seiner Profilseite den Button "Abonniert" klicken und "Name nicht mehr abonnieren" auswählen). Seiten, von denen man keine Mitteilungen sehen will, kann man blocken.

Mikroskopischer: Gewöhnen Sie sich an, oft und früh den kleinen Haken zu nutzen, den es bei Posts und Benachrichtigungen gibt. Dort kann man abstellen, dass man benachrichtigt wird, wenn jemand anderes einen Post, den Sie kommentiert haben, ebenfalls kommentiert ("Benachrichtigungen zu diesem Beitrag deaktivieren"). Wir Menschen lernen schneller, Dinge zu tun, als Dinge zu lassen, daher ist das eine gute Methode, das viel zu laute Rauschen auf Facebook zu verringern.

Eine weitere Übung, die vor allem die Medienkompetenz erweitert: Das Hirn kann besser, schneller und vor allem irgendwann so automatisch filtern, dass Sie es gar nicht mehr bewusst wahrnehmen, wenn es Muster kennt - das haben Sie schon mal als Kind vor dem Fernseher gelernt und hilft Ihnen heute mit Erfolg, Werbung zu übersehen.

Nehmen Sie Überschriften für eine Weile bewusster wahr, achten Sie auf zweifelhafte Domainangaben unter Links und erkennen Sie, wie aufmerksamkeitsheischendes Bild/Text-Layout wirkt. Folgen Sie diesen Links nicht (Sie können die entsprechenden Inhalte und Quellen im selben Zug auch gleich wegfiltern, wenn Sie möchten). Erkennen Sie auch, wenn eine Überschrift und ein Text nicht mit Übertreibungen arbeitet sondern sachlich und differenziert ist.

Achten Sie auf "Reichweitenmüll". Der verlangt von Ihnen, zu liken oder zu kommentieren. Das betrifft auch die digitalen Erben des Kettenbriefs, die verlangen, dass man sie als eigenen Post weiterverbreitet, gerne mal mit Betteldrohungen wie "Nur 2% trauen sich, diesen Text zu teilen". Hier ist der kleine Haken zum ausblenden neben dem Post wieder Ihr Freund: Sie werden feststellen, dass es am Ende immer die selben vier oder fünf Personen sind, die sowas mitmachen und es Ihnen nicht im geringsten fehlt, nichts mehr von ihnen zu hören.

Ihr Hirn wird schnell Muster erkennen und lernen, was Sie sehen wollen und was Sie lieber übersehen. Sie werden auch feststellen, dass Sie die für Sie relevanten Informationen dennoch nicht verpassen. Sie verpassen lediglich die schrillsten oder nervigsten Formen ihrer Darbietung. Sie werden auch das Gefühl haben, das wilde, sinnlose Rauschen Ihrer Timeline beruhigt sich. Denn wenn Sie Muster erkennen, kann Ihr Gehirn einfacher ordnen und vorbewerten, ob etwas Ihre Aufmerksamkeit Wert ist: Das ist was persönliches, das ist Spam, das ist oberflächlich, das ist Fake, das ist interessant.

Medienkompetenz hilft, Impulskontrolle zu erlangen und Impulskontrolle ist der beste Weg, um nicht wahnsinnig zu werden und Social Media wieder halbwegs so verwenden zu können, wie es sein Name verspricht.

Eine weitere Maßnahme können Sie bei unserer Jugend abschauen: verlegen Sie ihre privaten Kontakte, mit denen Sie wirklich regelmäßigen Austausch haben wollen, in privatere Dienste, die geschlossene Einzel- und Gruppenchats bieten. Alle Messenger können das inzwischen und wenn Sie sich wundern, dass es auf Facebook kaum mehr Jugendliche gibt: Die sind schon alle bei Snapchat, WhatsApp, Threema, Signal, und anderen Diensten, in denen sie ihre unterschiedlichen Freundeskreise, Interessensgruppen, Arbeits- oder SchulkollegInnen von Anfang an sauber voneinander getrennt halten können.

Der letzte Tip ist: Sobald Sie genervt sind, schließen Sie den Browser oder die App und machen Sie für zehn Minuten etwas, was Ihnen wirklich Freude bereitet. Hören Sie ein Lied, gehen Sie spazieren, reden Sie mit einem Menschen, trinken Sie einen Tee. Es gibt keinen Grund, eine Beschäftigung fortzusetzen, die Ihnen keinen Spaß macht. Social Media ist nicht wichtig, alles darin ist so vergänglich und beliebig, dass Sie nichts verpassen, wenn Sie es nur dann nutzen, wenn Sie auch wirklich Lust dazu haben.

Und wenn Sie Lust auf Social Media haben, aber auf Twitter und Facebook nicht mehr das finden, was Sie mal daran liebten: Gehen Sie woanders hin, wo es ruhiger und nischiger ist. Ello zum Beispiel.

1 - hierzu noch eine Klarstellung: Diese Erkenntnis ist nur für Menschen neu, die bisher nicht gewohnt sind, dass sie wegen ihres Lebensstils grundsätzlich Angriffen ausgesetzt sind. Das darf gerne mal allen bewusster werden als es ist.