"Ello, Mastodon! Lust auf nen kleinen Snapchat?"
"Keine Zeit, ich bin in der Diaspora, da wo App.net und Hive sich Gute Nacht sagen..."
Keine Sorge, ich hör schon auf. Obwohl man das Spiel weitertreiben könnte mit Peach, Whisper, Imzy und wie all die Facebook- und Twitter-Killer allein aus der jüngsten Zeit noch alle heißen.
Vielleicht ein bisschen aus der Furcht heraus, schon wieder irgendwas zu hypen und kurze Zeit später etwas verschämt zu hoffen, dass man nicht mitgemeint ist, wenn über die "Marketingprofis" gelacht wird, die schon wieder eine Sau durchs Dorf getrieben haben, gibt es diesmal sogar erkennbar kritische Stimmen zum - anscheinend - neuen Dienst, der diesmal "Mastodon" heißt.
Was Mastodon eigentlich ist und was nicht
Wobei die Kritik vor allem darin besteht, die Frage zu beantworten, ob Mastodon jetzt endlich der langerwartete Facebook- oder Twitter-Killer sei. Was es natürlich nicht ist (und übrigens gar nicht sein will, was diese Behauptung zu einem typischen Medien-Strohmann macht). Der zweite Irrtum der Kritiker ist, dass Mastodon eine "neue Social Media Plattform" sei - natürlich nicht bemerkend, wie sie dieser Prämisse sofort widersprechen, wenn sie über die Dezentralität von Mastodon sprechen und erklären, dass das die Plattform ja schwer zugänglich mache - verständlich, wenn ich glaube, dass das eine Plattform ist und sie sich dann nicht wie eine verhält. Mastodon ist aber keine Plattform, sondern lediglich eine Benutzeroberfläche, um Kurzmitteilungen über eine vernetzte Serverstruktur entweder öffentlich, nur für den jeweiligen Einzelserver oder nur für eine Person sichtbar zu machen.
Wer alt genug ist, um sich an Begriffe wie BBS, Usenet/Fidonet usw. zu erinnern, bekommt eine bessere Ahnung davon, was unter Mastodons Oberfläche tatsächlich passiert und was man da findet ist GNU Social, ein open source Social Network, dessen Ursprünge im Jahr 2008 zu finden sind (soviel zu "neu"). Was wiederum die Frage beantwortet, ob Mastodon überhaupt relevant genug werden kann: GNU social ist schon längst relevant und etabliert. Mastodon erleichtert es lediglich den an anderen als den dort bisher verhandelten Themen interessierten Menschen, es auch zu nutzen.
Außerdem ist es klar open source und hat eine gut ausgestattete EntwicklerInnen-Gemeinschaft. Da gibt es keine Exit-Strategie, für die ein Marktwert zu erreichen und zu steigern ist.
Warum etwas wie Mastodon der logische nächste Schritt ist
Mastodon wird in fast alles Artikeln, die ich bisher gelesen habe, mit Twitter und Facebook verglichen. Daher ist die wichtigere Frage zur Bewertung des neuen Social Media Dienstes, den es abbildet: Was ist das Besondere an Mastodon? Was macht es zu etwas anderem?
Der wichtigste Punkt, den ich hier herausstellen möchte ist einer, der momentan noch gar keine Rolle zu spielen scheint: Mastodon funktioniert auf Grund seiner technischen Struktur für eine wesentlich größere Menge Menschen als alle anderen Dienste.
Am Anfang waren Messageboards und Mailinglisten. Die wurden unübersichtlich, sobald mehr als - sagen wir - 200 Menschen in einer Gruppe schrieben. Außerdem war der Punkt, an dem einzelne Nutzer ein ganzes Board vergiften und unbrauchbar machen konnte, sehr schnell erreicht. Es ist kein Wunder, dass der Begriff "Troll" in dieser Zeit entstand.
Danach gab es Forensysteme, in denen eine Nutzerverwaltung eingeführt wurde und damit den Teilnehmern verschiedenen Tools und technische Hilfsmittel zur Verfügung gestellt werden konnten, um sich besser in der Informationsmenge zurecht zu finden. Das erhöhte die kritische Masse von 200 auf - ich würde mal schätzen je nach Aufwand in die Struktur und die Moderation - 5-10.000 Menschen.
Es gab dann für eine Weile ein dezentrales Netz aus Blogs: Kleine Blognetzwerke aber vor allem unzählige einzelne Blogs, die auf viele unterschiedliche Arten miteinander vernetzt waren. Es gab viele Blogger, die schrieben und noch viel mehr Leser, die kommentierten. Was das interessante daran war: Es gab nicht das eine Netzwerk für alle, sondern jede/r Einzelne formte sich sein eigenes Netz. So war eine wesentlich losere, aber auch eine viel breitere Öffentlichkeit miteinander verbunden, ob sie es merkte oder nicht. Als Blogger merkte man die potenzielle Reichweite zuweilen, wenn ein Blogeintrag plötzlich nicht mehr wie üblich 800 mal sondern plötzlich 20.000 mal - und zuweilen sogar hunderttausendfach aufgerufen wurde. Wir haben und hier also ein Vernetzungssystem geschaffen, das eine sechsstellige Menge an Menschen miteinander in Verbindung brachte.
Dann kamen die großen zentralen sozialen Netzwerke, von denen zum heutigen Zeitpunkt Twitter und Facebook die Führungsrolle übernommen haben: Beide übernehmen unterschiedliche Aufgaben, aber was sie beide konnten war, eine bislang unmöglich große Menge an NutzerInnen aufnehmen und miteinander verknüpfen. Facebook hat es dabei besser geschafft, die Latte für die kritische Masse zu erhöhen, indem es Algorithmen nutzte, um die Informationsflut nach Relevanz zu filtern. Ob das mit der Relevanz erfolgreich war, sei dahingestellt, was aber gelang war, die Menge der Interaktionen auf ein persönlich verträgliches Maß zusammenzustutzen. Aber seit einer guten Weile gerät auch Facebook an die Grenze des Möglichen. Hatemobs, Fakenews, Polarisierung, die unverhältnismäßige Lautstärke von aggressiven Nutzern und der Rückzug der Moderaten Stimmen wird immer deutlicher sichtbar und Facebook hat offensichtlich kein Rezept mehr, dem beizukommen und mit einigen Millionen Nutzern die - wie ich meine für ein zentrales Netzwerk - kritische Masse erreicht.
Auftritt Mastodon: Wie die Blogs, dezentral. Verstreut. Es gibt Server für dedizierte Themen, für bestimmte Nutzergruppen und jede Teilgruppe, die eine noch intimere oder persönlichere Umgebung benötigt oder möchte, kann sich seinen eigenen Server aufsetzen, denn Mastodon gehört niemanden und ist für alle nutzbar.
Daher glaube ich, dass Mastodon das Prinzip des sozialen Netzwerkes der näheren Zukunft darstellt - völlig egal, ob es explizit Mastodon sein wird, das sich durchsetzt oder ein Nachfolger im Geiste - um eine komplexe Weltgesellschaft digital abbilden zu können, wird Diversität auch von der Software verlangt, auf der sie sich begegnet. Und das kann kein kommerzielles Produkt bieten, das Geld erwirtschaften soll: Für Massen produzierte Produkte werden immer standardisiert und werden immer den Mainstream anvisieren. Diversität wird nie Kern eines Produktes sein können sondern wird, wenn überhaupt, als Individualisierungsmöglichkeit, als etwas, das es auch kann, angeboten. Ein soziales Netzwerk, das wirklich für alle Menschen und für jeden Bedarf wirklich gleich gut funktioniert, kann kein kommerzielles Produkt sein, was allerdings nicht heißt, dass man damit kein Geld verdienen kann: Es gibt genügend Beispiele für gut bezahlte Beratung und Implementierung rund um open source Software.
Ob Mastodon diese grundsätzlichen Anforderung erfüllen wird, wird man noch sehen, aber schon jetzt erfüllt es mehr davon als Twitter oder Facebook. Es hat jetzt schon mehr und bessere Funktionen als Twitter, das mit dem Erscheinen von Mastodon technisch gesehen quasi auf einen Schlag obsolet ist, praktisch aber sicher noch eine gute Weile durchhält, weil ja momentan noch alle dort sind und es noch inhaltlich relevant halten.
Warum Mastodon nicht Ello (oder ein anderer Facebook-Killer) ist
Der Unterschied zwischen Mastodon und den momentanen Platzhirschen ist also das Potenzial, das
- die ihm zugrunde liegende dezentrale Technik, die mit GNU social auf eine erprobte und stabile Infrastruktur aufbaut welche
- auch mit der nötig großen EntwicklerInnengemeinde ausgestattet ist und
- auf der open source Philosophie basiert, die es gegen den Zwang immunisiert, profitabel zu sein.
Alle bisherigen Versuche, Facebook oder Twitter anzugreifen, hatten alle oder einige dieser Voraussetzungen nicht. Am nächsten war vielleicht Diaspora dran, das aber Punkt 1. erst aufbauen hätte müssen und dazu zu wenig Punkt 2. zur Verfügung hatte.
Das heißt: Mastodon zeigt uns heute, wie soziale Netzwerke für noch mehr Menschen in Zukunft organisiert werden und wie die aktuellen Anforderungen an Diversität - also die Vernetzung von Individuen und Gruppen nach sehr differenzierten und vielschichtigen persönlichen und gesellschaftlichen Eigenschaften - erfüllt werden können.
Daher glaube ich, das Interessante an Mastodon ist nicht das, was man jetzt sieht: Momentan versuchen viele Menschen noch, es zu verwenden wie Twitter. Interessant wird es dann, wenn wir beginnen, es zu verwenden wie Mastodon.